Shahoo Hosseini
Frieden wird in der gängigen Auffassung immer im Schatten des Krieges
definiert: Wenn der Krieg aufhört und das Blutvergießen endet, gilt Frieden als
hergestellt. Diese negative und minimalistische Auffassung ist das, was man als
„allgemeines Verständnis von Frieden“ bezeichnen kann; ein Verständnis, das auf
der Ebene internationaler Institutionen, politischer Abkommen und sogar im
öffentlichen Diskurs vorherrscht. Aber die philosophische Frage lautet:
Bedeutet Frieden wirklich nur das Schweigen der Waffen und das Unterzeichnen
von Verträgen?
Die Philosophie sieht Frieden, im Gegensatz zur politischen Norm, nicht als
einen negativen Zustand, sondern im Horizont einer ontologisch und subjektiv
begründeten Bedingung. Frieden in diesem Sinne ist nicht das Ende des Krieges,
sondern die Möglichkeit eines Neuanfangs: eine Möglichkeit für das Erscheinen
von Subjektivitäten, ein Raum für Intersubjektivität, also die Beziehung
zwischen Ich und Anderem im Horizont gegenseitiger Anerkennung, ein Fundament
für Vielfalt und Pluralismus von Subjektivitäten, wo keine Wahrheit oder Macht
alle Unterschiede gleichschaltet. Anders gesagt: Philosophischer Frieden
bedeutet Bedingungen, unter denen „Sein-mit-dem-Anderen“ nicht aus Zwang oder
Hegemonie, sondern auf Grundlage von Freiheit, Gleichheit und gemeinsamer
kreativer Entfaltung verwirklicht wird. Wenn Freiheit im philosophischen Sinne
Selbstständigkeit und Autonomie des Subjekts bedeutet, dann ist Frieden im
philosophischen Horizont die Bedingung für die Verwirklichung dieser
Selbstständigkeit im gemeinsamen, intersubjektiven Feld.
Aus dieser Perspektive bedeutet „kein Krieg“ nicht zwangsläufig „Frieden
haben“. Es kann Zustände geben, in denen der Krieg verstummt ist, aber
Subjektivitäten unterdrückt werden, Intersubjektivität blockiert ist und
Pluralismus in den Hintergrund gedrängt wird. Was in solchen Zuständen
vorherrscht, ist nichts anderes als Friedensillusion; ein falscher Frieden, der
eher der Aufrechterhaltung von Herrschaft und Unterwerfung dient als der
Freiheit und der Möglichkeit des Erscheinens von Differenzen.
Daher besteht die zentrale philosophische Frage nicht im Krieg, sondern in
der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von philosophischem Frieden; einem Frieden,
der gleichzeitig befreiend und kreativ ist und den Raum für das Zusammenleben
von Subjektivitäten im Horizont von Vielfalt und Differenz bereitet. Überleitung
zur Problematik des Nahen Ostens: Friedensillusion und Blockade von
Subjektivität.
Wenn Frieden, wie zuvor diskutiert, die Bedingung für das Erscheinen von
Subjektivitäten und intersubjektivem Pluralismus ist, zeigt die Situation im
Nahen Osten deutlich das Fehlen dieses Friedens. In dieser Region wird „kein
Krieg“ oder das Vorhandensein relativer Abkommen oft als Maßstab für Frieden
gesehen, obwohl dieses Maß nur oberflächlich und hegemonial ist.
Tatsächlich herrscht im Nahen Osten:
Blockade der Intersubjektivität: Die Möglichkeit eines echten Dialogs
zwischen Subjektivitäten ist eingeschränkt oder systematisch unterdrückt.
Politische und soziale Diskurse verlaufen oft einseitig und hegemonial.
Unterdrückung von Subjektivität: Die Möglichkeit, kollektive oder
individuelle Selbstständigkeit und Kreativität zu entfalten, wird durch
dominierende Mächte oder ungleiche Strukturen blockiert. Unterschiede werden
entweder erzwungen gleichgeschaltet oder an den Rand gedrängt.
Friedensillusion: Was als Frieden präsentiert wird, ist weder Pluralismus
noch Freiheit, sondern die Aufrechterhaltung der Hegemonie und Herrschaft.
Menschen und Subjekte leben scheinbar „friedlich“, doch dieser Frieden ist kein
philosophischer Frieden; er erkennt die Möglichkeit von Selbstständigkeit und
das Auftreten von Differenzen nicht an.
Daher müssen wir, wenn wir vom Nahen Osten sprechen, unser Verständnis von
Frieden überdenken: Frieden ist nicht nur ein politischer oder vertraglicher
Zustand, sondern ein praktischer und philosophischer Raum für Selbstentfaltung
und freie Interaktion von Subjektivitäten. Das Fehlen eines solchen Raums ist
nicht nur eine politische oder soziale Krise, sondern eine philosophische
Krise, die wir als Friedensillusion erleben.
Philosophisch-politische Analyse: Blockade des Friedens im Nahen Osten
Im Nahen Osten wird Frieden nicht nur aufgrund offener Kriege verhindert,
sondern durch verborgene Mechanismen von Herrschaft und Unterwerfung von
Subjektivitäten. Diese Blockade lässt sich in mehreren Schlüsselbereichen
analysieren: Hegemonie und Reproduktion von Herrschaft: Dominierende Mächte,
sowohl auf staatlicher als auch auf überregionaler Ebene, beschränken den Raum
für Subjektivitäten durch autoritäre Politik und Kontrollsysteme. Diese
Hegemonie formt nicht nur den politischen, sondern auch den sozialen und
kulturellen Raum und drängt Unterschiede an den Rand. Ergebnis: ein falscher
Frieden, der äußerlich Ordnung und Stabilität zeigt, aber in Wirklichkeit
Kreativität und Selbstständigkeit unterdrückt.
Blockade der Intersubjektivität: Dialog und Interaktion zwischen
Subjektivitäten, die Voraussetzung für philosophischen Frieden sind, stoßen auf
strukturelle und kulturelle Hindernisse. Dominante Narrative sind meist
monologisch und unterdrückend und begrenzen die Anerkennung abweichender
Stimmen. Ohne gleichberechtigten und kreativen Austausch kann echter Frieden
nicht entstehen.
Unterdrückung von Subjektivität und Selbstständigkeit: Menschen und
Gemeinschaften im Nahen Osten sehen sich häufig politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Beschränkungen ausgesetzt, die die Autonomie und die Entfaltung
der Subjektivität verhindern. Dies hindert die Entfaltung von Vielfalt und
Pluralismus.
Friedensillusion: Kombination aus Hegemonie, Blockade der
Intersubjektivität und Unterdrückung von Subjektivität erzeugt eine Situation,
die als Friedensillusion bezeichnet werden kann: eine Gesellschaft, die
äußerlich ohne Krieg ist und auf dem Papier Abkommen hat, in der Praxis aber
keine Selbstständigkeit, Dialog oder Differenz zulässt, erlebt keinen
philosophischen Frieden. Ausbeutung und Blockade der Subjektivität der Kurden
in den vier Staaten des Nahen Ostens.
Wenn Frieden als Raum für das Erscheinen von Subjektivitäten und
Intersubjektivität verstanden wird, ist die Situation der Kurden in der Region
ein greifbares Beispiel für das Nichtvorhandensein dieses Friedens. In den vier
Staaten: Türkei, Iran, Irak und Syrien, sind Kurden mit systematischen
Mechanismen von Hegemonie und Unterdrückung konfrontiert, die sowohl Freiheit
als auch die Möglichkeit zur Selbstentfaltung begrenzen.
Hegemonie der Nationalstaaten und Reproduktion von Herrschaft: In jedem
dieser Länder verfolgen zentrale Regierungen durch unterdrückende Politiken und
die Umgestaltung von Geschichte und Identität die Kontrolle und Unterwerfung
der Kurden. Diese Hegemonie verhindert die Bildung kollektiver kurdischer
Subjektivität und schafft eine Friedensillusion, die in Wirklichkeit die
Fortsetzung der Herrschaft bedeutet.
Blockade der Intersubjektivität: Die Möglichkeit eines gleichberechtigten
Dialogs zwischen Kurden und anderen Subjektivitäten oder Regierungen, besonders
in politischen und sozialen Bereichen, ist stark eingeschränkt. Kurdische
Narrative werden oft an den Rand gedrängt und ihre Stimmen nicht anerkannt.
Diese Blockade verhindert sowohl philosophischen Frieden als auch die
Entfaltung eines Pluralismus der Subjektivitäten in der weiteren Gesellschaft.
Unterdrückung von Subjektivität und Einschränkung der Selbstständigkeit: Kurden
sehen sich in allen vier Ländern mit erheblichen Beschränkungen in Bildung,
Sprache, Kultur und politischer Partizipation konfrontiert. Diese
Einschränkungen verhindern nicht nur individuelle Subjektivität, sondern
blockieren auch die kollektive Subjektivität der Kurden. Eine Gesellschaft, die
äußerlich „friedlich“ erscheint, ist in Wirklichkeit ein Ort der Unterdrückung
von Kreativität und Selbstentfaltung.
Friedensillusion und Fortsetzung der Ausbeutung: Die Situation der Kurden
ist ein deutliches Beispiel für Friedensillusion: ein Frieden, der nicht auf
Pluralismus und echter Freiheit basiert, sondern auf Hegemonie und Herrschaft.
Frieden ohne Freiheit und Selbstständigkeit ist kein Frieden, sondern die
Fortsetzung von Ausbeutung und Blockade der Subjektivität.
Schlusswort
Frieden, wie er in der gängigen Auffassung verstanden wird, wird oft
einfach mit Abwesenheit von Krieg oder oberflächlichen Vereinbarungen
gleichgesetzt. Die Philosophie lehrt uns jedoch, dass Frieden mehr ist als das
Schweigen der Waffen; Frieden ist der Raum für das Erscheinen von
Subjektivitäten und intersubjektivem Pluralismus. Freiheit und Frieden sind
zwei Seiten derselben Medaille: Ohne die Möglichkeit zur Selbstständigkeit und
Autonomie der Subjektivitäten ist Frieden lediglich eine hegemoniale Illusion.
Die Erfahrung der Kurden in den vier Staaten des Nahen Ostens ist ein
deutliches Beispiel für diese Blockade: Hegemonie, Unterdrückung von
Subjektivität und Blockade der Intersubjektivität reduzieren Frieden auf eine
oberflächliche und falsche Erscheinung. Was als „Frieden“ erscheint, ist in
Wirklichkeit die Fortsetzung von Ausbeutung und die Verweigerung der
Möglichkeit zur Selbstentfaltung. Echter, philosophischer und existenzieller
Frieden entsteht nicht durch Machtvereinbarungen, sondern durch Freiheit,
Selbstständigkeit und kreative Interaktion von Subjektivitäten. Wenn diese
Möglichkeit gegeben ist, ist Frieden nicht ein statischer Zustand, sondern ein
Feld der Entfaltung und des Pluralismus von Subjektivitäten, wo Differenzen
anerkannt werden und jedes Subjekt seine Existenz in der Welt verwirklichen
kann.
Kurz und bündig: Philosophischer Frieden ist kollektive Selbstentfaltung im
Horizont der Differenzen; überall dort, wo Subjektivitäten unterdrückt werden
und Intersubjektivität blockiert ist, ist Frieden nur eine Illusion.
